BDSM ausleben mit Behinderung geht das überhaupt?
Gerade jetzt, wo ich selber durch Corona mehr als eingeschränkt bin, treiben mich vermehrt Gedanken um, die mich schon zu Beginn seit meinem Outing beschäftigten und mich immer mal wieder heimsuchen.
Bei der ganzen Informationsflut zum Thema BDSM, die ich mir über die Jahre reingezogen habe ist mir aufgefallen, dass mir irgendwie immer der Aspekt „BDSM ausleben mit Behinderung“ fehlt. Leben Menschen mit Handicap – ein Ausdruck, der mir sehr viel lieber ist als dieses Wort „Behinderung“ – kein BDSM aus?
Mein Herr und Meister konnte mir nicht wirklich helfen bzw. mir befriedigende Antworten geben und weil ich manchmal doch klare Ansagen brauche, bekam ich diese prompt auch: „Schreib doch mal selbst was dazu! Du kannst mit Worten umgehen und auf den Kopf gefallen bist Du auch nicht.“
Und jetzt sitze ich da, kaue auf meinen Haarspitzen herum und fülle meinen virtuellen Papierkorb mit vergeblichen Schreibversuchen. Gut, ich bin sowohl eine staatlich anerkannte Schwerbehinderte – so richtig mit Brief und Siegel – als auch eine schreibende BDSMlerin.
Und ich habe den leisen Verdacht, dass ich viel zu oft und geradezu nervend-monothematisch über meine Neigung und mein Handicap nachdenke, was nicht geht, geht eben nicht…Punkt. Doch ist das wirklich so einfach?
Natürlich könnte ich jetzt eine Abhandlung darüber schreiben, dass ein chronisches Handicap keineswegs ein Grund ist, eine Neigung nicht zu leben oder darüber, dass alleine Sub und Dom entscheiden wie und was ihnen gefällt, ich könnte es aber auch lassen.
Eine Sub, der ein missglücktes Skimanöver ein Gipsbein eingebracht hat, wird dadurch in ihrer Rolle auch nicht in Frage gestellt. Vielmehr wird ein halbwegs vernünftiger Dom einfach seine Forderungen den Gegebenheiten anpassen und unmögliche Dienstleistungen eben einfach nicht einfordern.
Er könnte allerdings auch zeitgleich neue Spielvarianten entdecken, die erst durch das Gipsbein möglich werden. Also, warum in Teufelsnamen sollte das bei einem dauerhaft gehandicapten Menschen anders sein? Wer schreibt einem gehandicapten Menschen das vor?
Aus dem Stegreif und ganz wunderbar kann ich auch darüber dozieren, dass die Schönheit im Auge des Betrachters liegt und dass auch ein „imperfekter“ Körper seine Liebhaber finden kann. Oder um es simpel auszudrücken, was für einen Genießer weiblicher Üppigkeit weich und wunderbar fraulich ist, ist für einen Asketen schlicht unerträglich fett.
Wo ein Liebhaber der unsäglichen Modelmasse in höchste Lobpreisungen verfällt und die Zartheit des Körperbaues preist, spricht ein anderer Mann nur von einem Hungerhaken. Sicher ein tolles Thema – wenn da nur nicht die Rubrik „BDSM ausleben mit Behinderung“ wäre, die darauf wartet gefüllt zu werden.
Man sollte schon meinen, die richtigen Worte müssten nur so aus meinen Fingern in die Tastatur purzeln. Pustekuchen !!! Und so geht es mir laufend. Es ist wie verhext, als sollten weder meine Finger noch mein Gehirn dazu etwas zustande bringen dürfen.
Kaum denke ich, dass ich ein wunderbares Thema für einen Artikel in dieser verflixten Rubrik „BDSM ausleben mit Behinderung“ zusammengeschrieben habe, muss ich mir selber eingestehen, dass es für die jeweilige Idee schon bei der Überschrift nur einen Kommentar gibt – „Thema verfehlt“.
Etwa 4,5 Millionen Menschen leben in Deutschland mit einem Handicap. Egal ob schwer oder nur in geringem Maße eingeschränkt, behinderte Menschen haben immer noch mit dem Verhalten ihrer Mitmenschen zu kämpfen. Von betretenem Schweigen über heimliches Hinstarren bis hin zu offen ausgesprochener Intoleranz und Abneigung.
Auch in Sachen Sexualität und Beziehung kursieren viele Vorurteile. Zumeist wird behinderten Menschen erst gar keine Sexualität zugesprochen. Doch auch behinderte Menschen haben ganz alltägliche Bedürfnisse und Wünsche. Eine Behinderung zu haben und BDSM zu mögen und zu betreiben ist kein Widerspruch!
Ein Mensch mit einer Behinderung kann ebenso sadistisch oder masochistisch, ebenso dominant oder devot sein wie ein Mensch ohne Handicap, wir sprechen hier ja immerhin von charakterlichen Eigenschaften und die sind nun wahrlich nicht an eine Situation gebunden die durch eine Behinderung entsteht. Gerade als behinderter Mensch setzt man sich sehr stark mit den eigenen Bedürfnissen, Wünschen und Möglichkeiten auseinander.
Wir BDSM’ler sind nicht in allen Fällen die tolerantesten Menschen unter der Sonne, um es einmal sehr vorsichtig zu formulieren. Ein Beweis dafür sind die vielen Kleinkriege innerhalb der Szene, und die mehr oder weniger geschickten, immer allerdings wortgewaltigen Versuche, eine Gruppe von der anderen abzugrenzen.
Da wollen Spanker und SM’ler nichts miteinander zu tun haben, da protestieren Anhänger von D/s-Rollenspielen lautstark, das habe alles mit SM nichts zu tun, und welche Einstellung viele gegenüber den „Randgruppen unserer Randgruppe“ haben wie zum Beispiel den Pet-Spielern oder Windelfetischisten, müssen wir sicher nicht näher ausführen.
Einerseits sagt sich jeder, wenn schon die SM’ler selbst beispielsweise Windelspiele pervers finden, wer soll dann den ganzen Bereich überhaupt noch in Ordnung finden? Darüber hinaus zeigt es aber auch, wie schwer es uns fällt, die wir uns selbst so oft über fehlende Akzeptanz beklagen, unsererseits die Menschen anzunehmen, die anders sind als wir.
Ganz besonders schwer haben es in dem Zusammenhang die mit Handicap unter den BDSM’lern. Sie haben nämlich gleich doppelt mit Vorurteilen zu kämpfen: mit der Angst der „Gesunden“ vor der Behinderung, so wie der der „Normalen“ vor BDSM.
Während sie das Thema BDSM verstecken können, indem sie ein Outing vermeiden – ihre Behinderung ist meist offensichtlich, automatisch geoutet sozusagen, und führt in vielen Fällen zu Misstrauen, Distanz und Ablehnung. Die Angst vor BDSM müssen sie bei anderen BDSM’lern nicht befürchten, wohl aber die vor dem Tabu „Behinderung“.
Einiges von dieser Angst rührt von Unwissen her und dieses Unwissen möchte ich soweit es mir möglich ist, helfen zu beseitigen. Es wäre schön, wenn noch andere BDSMler von ihrem hohen Ross runterklettern und mich dabei unterstützen würden.
© Seele 2021